N-heterocyclische Carbene
(Abkürzung NHC). Carbene sind neutrale Verbindungen mit einem Elektronensextett an einem formal zweiwertigen Kohlenstoff-Atom. Sie treten in der organischen Chemie oft als reaktive Zwischenstufen mit elektrophilem Charakter auf, die nicht isoliert werden können. Durch geeignete Substituenten, die das formal zweiwertige Kohlenstoff-Atom elektronisch und auch sterisch stabilisieren, lassen sich Carbene als isolierbare und „abfüllbare“ Verbindungen herstellen (siehe auch Carbene, Metall-Carben-Komplexe, Thiazolium-Salze, Organokatalyse, Polycarbene). Arduengo et al.[1] stellten 1991 das erste stabile, isolierbare und kristalline freie NHC vor, das unter Ausschluss von Feuchtigkeit und Luft ohne Zersetzung bei 240 °C schmilzt: 1,3-Di(adamantyl)imidazolin-2-yliden (siehe Abbildung 1).
Die Verbindung liegt im Singulett-Zustand vor und zeigt einen stark nucleophilen Charakter.
Bedeutung und Eigenschaften
Generell haben sich viele NHC in den vergangenen Jahren als vielseitige Liganden in der Organokatalyse[2,3] und in der metallorganischen Chemie[4-6] etabliert. Dies beruht im Wesentlichen auf folgenden Vorteilen:
– NHC sind stärkere σ-Donoren als Phosphane.
– NHC sind ähnlich wie Phosphan-Liganden elektronisch und sterisch leicht anzupassen, wobei als zusätzlicher Vorteil für NHC beide Parameter fast unabhängig voneinander verändert werden können.
– Sterische und elektronische Eigenschaften von NHC sind quantitativ erfass- und vergleichbar („buried volume“ und „Tolman electronic parameter“)[7].
– Multifunktionelle NHC und NHC mit reversibler Schaltung elektronischer Eigenschaften durch Licht, elektrochemische Reduktion/Oxidation oder Protonierung/Deprotonierung sind möglich[8].
– Für die Herstellung verschiedener NHC und die Variation der Substituenten kann auf die sehr lange und außerordentlich umfangreiche Forschung und Entwicklung in der Heterocyclen-Chemie (siehe heterocyclische Verbindungen) zurückgegriffen werden.
– Chirale NHC erlauben durch asymmetrische Katalyse die gezielte Enantiomeren-Herstellung (siehe enantioselektive Katalyse).
– NHC-Metall-Bindungen sind extrem stabil und recht unempfindlich gegen Oxidation.
– NHC-Übergangsmetall-Komplexe werden zunehmend als hocheffiziente Katalysatoren verwendet und erlauben sogar die Aktivierung der früher als inert angesehenen C–H-Bindung[9].
– Die Immobilisierung von NHC-Komplexen und Katalysatoren über Substituenten ist möglich.
NHC-Typen
Stabile Singulett-Carbene für 3-, 4-, 5-, 6- und 7-gliedrige heterocyclische Ringverbindungen sind synthetisiert und untersucht worden[10-12].
Elektronische Struktur, Bindung und Stabilität
Da sich viele Vertreter der NHC-Verbindungsklasse von den Heterocyclen Imidazolin und Imidazolidin (partiell und vollständig hydrierte Abkömmlinge von Imidazol) ableiten, wird mit den Beispielen Imidazolin-2-yliden (Doppelbindung, ungesättigt) und Imidazolidin-2-yliden (Einfachbindung, gesättigt) die Ursache der NHC-Stabilität anhand der elektronischen Struktur und des „Push-pull“-Mechanismus verdeutlicht. In unserem Beispiel ist die Flankierung des sp2-hybridisierten Carben-Kohlenstoffs durch zwei Stickstoff-Atome maßgebend. Diese schieben („push“) zum einen durch ihren π-Donor-Effekt (+M-Effekt, Mesomeriestabilisierung, siehe Resonanz) delokalisierte Elektronendichte in das leere p-Orbital am Kohlenstoff. Andererseits ziehen („pull“) die Stickstoff-Atome mit der höheren Elektronegativität gegenüber dem Carben-Kohlenstoff-Atom durch ihren negativen induktiven σ–Elektronen-Effekt (–I-Effekt). Aus umgekehrter Sicht des Carben-Kohlenstoff-Atoms stabilisiert die Verringerung der σ–Elektronendichte als +I-Effekt sein freies Elektronenpaar[13]. Sterische Abschirmung des Carben-Kohlenstoffs durch die Substituenten an den Stickstoff-Atomen hingegen spielt für die Stabilisierung eine kleinere Rolle. Zu den elektronischen Eigenschaften von NHC und deren experimentelle Bestimmung siehe der Übersichtsartikel[14].
Grundsätzlich sind die elektronischen Stabilisierungsmechanismen bei anderen Vertretern der NHC gleich, aber die relativen Anteile variieren je nach Art und Anzahl der Heteroatome, Ringstruktur und Aromatizität.
NHC sind ausgeprägte σ-Donoren, die sehr stabile Verbindungen mit Übergangsmetallen sowie den meisten Hauptgruppenelementen des Periodensystems bilden. Die stürmische Erforschung dieser Verbindungen hat eine enorme Anwendungsvielfalt in der Organokatalyse, der homogenen Katalyse, der Photochemie, der Synthese von pharmazeutischen Wirkstoffen, den Materialwissenschaften und der medizinischen Chemie aufgezeigt.
Herstellung und Verwendung
Die Herstellung und Verwendung wird im Folgenden für die freien NHC, NHC-Übergangsmetall-Komplexe und NHC-Hauptelement-Komplexe beschrieben.
Freie NHC
Allgemeine Synthesemethoden zur Herstellung von Imidazolin-2-yliden (A) und Imidazolidin-2-yliden (B) sind in Abbildung 4 dargestellt. Sie werden durch Deprotonierung von Imidazolium- bzw. Imidazolinium-Salzen erhalten, was mit verschiedenen Basen erfolgen kann. Imidazolium-Salze können entweder durch doppelte Alkylierung von Imidazol (Weg 1) oder in einer Eintopfreaktion aus Glyoxal, einem primären Amin und Formaldehyd durch Kondensation (Weg 2) gewonnen werden. Imidazolium-Salze sind auch durch Kondensation von substituierten Ethylendiaminen mit Orthoameisensäureestern zugänglich (Weg 3).
NHC werden als Organokatalysatoren (siehe Organokatalyse) am häufigsten für die nucleophile Addition an Aldehyde verwendet, wobei eine Enamin-ähnliche, sogenannte Breslow-Zwischenstufe mit Umpolung gebildet wird, sodass der ursprünglich elektrophile Carbonyl-Kohlenstoff nucleophil weiterreagiert.
Ugai et al. erkannte 1943, dass 3-Ethylthiazoliumbromid in Anwesenheit einer Base die Benzoin-Kondensation katalysiert (Abbildung 5); allerdings wurde der Mechanismus über die in-situ-NHC-Katalyse erst 1958 von Breslow geklärt (siehe Thiazolium-Salze), der auch das Coenzym Thiamin (Vitamin B1) als Katalysator verwendete. In der Stetter-Reaktion wird, wie bei der Benzoin-Kondensation, aus einem Aldehyd und einem NHC im ersten Schritt durch nucleophile Addition und Protonentransfer die Breslow-Zwischenstufe gebildet, die durch 1,4-Addition an einen Michael-Akzeptor (aktiviertes Alken, siehe Michael-Addition) unter Freisetzung des NHC weiterreagiert.
Zur Bedeutung der NHC für [4+2]-, [2+2]-, [2+3]-, und [2+2+2]-Cycloadditionen siehe Literatur[15].
NHC-Übergangsmetall-Komplexe
NHC-Komplexe sind von Übergangsmetallen mit Metallen in hohen und niedrigen Oxidationsstufen bekannt. Die Metall-Kohlenstoff-Bindung in NHC-Übergangsmetall-Komplexen ist in der Regel sehr stabil, weshalb NHC als „Zuschauer-Liganden“ fungieren und als solche bezeichnet werden.
Der erste NHC-Übergangsmetall-Komplex wurde 1915 von Lev Alexandrowitsch Tschugaeff et al. durch die Umsetzung von Tetrakis(methylisocyanid)platin(II) mit Hydrazin als eine rote kristalline Substanz erhalten. Die Protonierung dieser Verbindung mit Chlorwasserstoff führte zur Freisetzung von Methylisocyanid und einer gelben kristallinen Substanz[16]. Die damals angenommenen Strukturen der erhaltenen Verbindungen waren jedoch falsch und wurden erst 1970 korrekt ermittelt[4].
Zu NHC-Komplexen mit Kupfer, Nickel und Kobalt einschließlich ihrer Verwendung siehe Literatur[17].
NHC-Komplexe von cytotoxischen Übergangsmetallen wie Platin, Palladium, Silber, Gold, Quecksilber, Kupfer und anderen finden Anwendung in der Chemotherapie von Tumoren[18].
In Abbildung 6 sind verschiedene Methoden zur Herstellung von NHC-Übergangsmetall-Komplexen gezeigt. Die Bildung eines NHC-Komplexes aus einem Imidazolium-Metallat (Abbildung 6, a) und die Deprotonierung von Imidazolium-Salzen durch basische Anionen oder Liganden einer Metallverbindung (Abbildung 6, b) wurden bereits 1968 von K. Öfele[19]bzw. H.-W. Wanzlick[20] lange vor der ersten Herstellung eines freien NHC beschrieben. Die Umsetzung von Imidazolium-Salzen mit Silber(I)-oxid liefert die entsprechenden NHC-Silber-Komplexe, welche sich sehr gut als NHC-Transferreagenzien eignen[21] (Abbildung 6, c). NHC-Komplexe können auch durch in-situ-Deprotonierung der Imidazolium-Salze mittels einer externen Base in Gegenwart der Metallverbindung erzeugt werden (Abbildung 6, d). Schließlich können auch freie NHC mit Metallverbindungen umgesetzt werden. Dies ist in Abbildung 6 (e) anhand der Synthese des Grubbs-Katalysators der 2. Generation für die Alken-Metathese gezeigt.
Zur Art der Bindung zwischen dem C-Atom des Carbens und dem Metall M zeigt Abbildung 7 die möglichen Grenzstrukturen C mit Alkyliden-Doppelbindung und D mit Ylid-artiger Einfachbindung und Ladungstrennung. Je nach Art der Substituenten R1–R4, des Metallatoms M und der Liganden Ln liegt der Bindungscharakter mehr oder weniger in der Richtung einer der Grenzstrukturen. Normalerweise überwiegt der Sigma(Einfach)-Bindungscharakter von D, aber der Prozentsatz des Pi(Doppel)-Bindungscharakters von C ist ein teilweise erheblicher Bestandteil der Wechselwirkungsenergie zwischen Carben und Metall[22,23].
NHC-Hauptelement-Komplexe
Nach der Herstellung des ersten freien NHC wurden zeitnah die ersten Komplexe mit den Hauptgruppenelementen Aluminium, Germanium, Bor und Gallium hergestellt[5,24].
Besonders NHC-Bor-Komplexe finden Anwendungen in organischen Synthesen und als Co-Initiatoren von radikalischen Polymerisationen.
Aus einem CAAC-stabilisiertem [CAAC = cyclisches (Alkyl)(amino)carben], isolierbarem und „abfüllbarem“ Radikal stellten Bertrand et al. durch Addition von Benzoylchlorid und anschließender Reduktion mit Tetrakis(dimethylamino)ethen ein stabiles Radikal her, das wochenlang bei Raumtemperatur ohne Zersetzung aufbewahrt werden konnte[25].
Literatur
[1] Arduengo, A. J., III.; Harlow, R. L.; Kline, M., J. Am. Chem. Soc., (1991) 113, 361–363
Suche in: Google Scholar
[2] Biju, A. T., Hrsg., N-Heterocyclic Carbenes in Organocatalysis, Wiley-VCH: Weinheim, (2019)
Suche in: Google Scholar
[3] Enders, D.; Niemeier, O.; Henseler, A., Chem. Rev., (2007) 107, 5606–5655
Suche in: Google Scholar
[4] Huynh, H. V., The Organometallic Chemistry of N-Heterocyclic Carbenes, John Wiley & Sons: Chichester, (2017)
Suche in: Google Scholar
[5] Nolan, S. P., Hrsg., N-Heterocyclic Carbenes: Effective Tools for Organometallic Synthesis, Wiley-VCH: Weinheim, (2014)
Suche in: Google Scholar
[6] Díez-González, S.; Marion, N.; Nolan, S. P., Chem. Rev., (2009) 109, 3612–3676
Suche in: Google Scholar
[7] Nolan, S. P.; Cazin, C. S. J., Hrsg., N-Heterocyclic Carbenes in Catalytic Organic Synthesis, Thieme: Stuttgart, (2017), Bd. 1, S. 59–77
Suche in: Google Scholar
[8] Peris, E., Chem. Rev., (2018) 118, 9988–10031
Suche in: Google Scholar
[9] Zhao, Q.; Meng, G.; Nolan, S. P.; Szostak, Chem. Rev., (2020) 120, 1981–2048
Suche in: Google Scholar
[10] Díez-González, S., Hrsg., N-Heterocyclic Carbenes: From Laboratory Curiosities to Efficient Synthetic Tools, 2. Aufl.; Royal Society of Chemistry: Cambridge, (2016)
Suche in: Google Scholar
[11] Cazin, C. S. J., Hrsg., N-Heterocyclic Carbenes in Transition Metal Catalysis and Organocatalysis, Springer: Berlin, (2011)
Suche in: Google Scholar
[12] Vivancos, A.; Segarra, C.; Albrecht, M., Chem Rev., (2018) 118, 9493–9586
Suche in: Google Scholar
[13] Munz, D., Organometallics, (2018) 37, 275–289
Suche in: Google Scholar
[14] Huynh, H. V., Chem. Rev., (2018) 118, 9457–9492
Suche in: Google Scholar
[15] Shi, M.; Wei, Y.; Zhao, M.; Zhang, J., Organocatalytic Cycloadditions for Synthesis of Carbo- and Heterocycles, Wiley-VCH: Weinheim, (2018), S. 237–307
Suche in: Google Scholar
[16] Tschugajeff, L.; Skanawy-Grigorjewa, M., J. Russ. Chem. Soc., (1915) 47, 776
Suche in: Google Scholar
[17] Liu, W.; Gust, R., Coord. Chem. Rev., (2016) 329, 191–213
Suche in: Google Scholar
[18] Danopoulos, A. A.; Simler, T.; Braunstein, P., Chem. Rev., (2019) 119, 3730–3961
Suche in: Google Scholar
[19] Öfele, K., J. Organomet. Chem., (1968) 12, P42–P43
Suche in: Google Scholar
[20] Wanzlick, H.-W.; Schönherr, H.-J., Angew. Chem., (1968) 80, 154
Suche in: Google Scholar
[21] Wang, H. M. J.; Lin, I. J. B., Organometallics, (1998) 17, 972–975
Suche in: Google Scholar
[22] Hu, X.; Castro-Rodriguez, I.; Olsen, K.; Meyer, K., Organometallics, (2004) 23, 755–764
Suche in: Google Scholar
[23] Huynh, H. V.; Frison, G., J. Org. Chem., (2013) 78, 328–338
Suche in: Google Scholar
[24] Doddi, A.; Peters, M.; Tamm, M., Chem. Rev., (2019) 119, 6994–7112
Suche in: Google Scholar
[25] Mohoney, J. K.; Martin, D.; Moore, C. E.; Rheingold, A. L.; Bertrand, G., J. Am. Chem. Soc., (2013) 135, 18766–18769
Suche in: Google Scholar
Hopkinson, M. N.; Richter, C.; Schedler, M.; Glorius, F., Nature (London), (2014) 510, 485–496
Suche in: Google Scholar
Kuhl, O., Functionalised N-Heterocyclic Carbene Complexes, John Wiley & Sons: Chichester, (2010)
Suche in: Google Scholar
Nolan, S. P.; Cazin, C. S. J., Hrsg., N-Heterocyclic Carbenes in Catalytic Organic Synthesis, Thieme: Stuttgart, (2017), Bd. 1 und 2
Suche in: Google Scholar
Übersetzungen:
E | N-heterocyclic carbenes |